Vom Frühjahr, Öltank und vom Fliegen
Chorsätze nach Texten von Bertolt Brecht
Für gemischten Chor, drei Klaviere und Schlaginstrumente
Textdichter/-vorlage: Bertolt Brecht
Besetzung: gemischter Chor (SATTBB), 3 Klaviere, Schlagwerk (6-9 Spieler)
Sprache: deutsch, englisch
Kompositionsjahr: 1930, rev. 1973
Uraufführung: 11. Juli 1965 Stuttgart (D)
Aufführungsdauer: 15′
Der Chorsatz Vom Frühjahr, Öltank und vom Fliegen ist Teil der Kantaten nach Texten von Bert Brecht
Besetzung detailliert
Instrumente: 3 Klaviere (ossia 2 Klaviere)
Schlagwerk: 2 Rührtrommeln · 3 Tomtoms · kleine Trommel · 2 Tamburin · 2 große Trommeln · 8 hängende Becken · 2 Holzblöcke · Crotales · Triangel · Gong · Kastagnetten · Maracas · Glockenspiel · Xylophon (6-9 Spieler)
Werkteile/Gliederung
2. Siebenhundert Intellektuelle beten einen Öltank an
3. Bericht vom Fliegen
Die Chorsätze 1 und 3 sind auch einzeln aufführbar. Lediglich Satz Nr. 2 darf nicht allein, nur in Verbindung mit den anderen beiden Chorsätzen aufgeführt werden.
Kommentar
Männerchor a cappella
Die Satztechnik weist auf das Stilprinzip der Paraphonie. Der a cappella Satz beschränkt sich auf die Monotonie eines diffusen Spannklanges für Tenor und zwei Bässe.
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Siebenhundert Intellektuelle beten einen Öltank an
Männerchor und Schlagwerk
[…]
Dem nachdenklichen Eröffnungsstück folgt ein Monstrum in großer Schlagwerkbesetzung: die Anbetung des Öltanks als neuer Gott durch die Intellektuellen. Brecht hat nach der Maske des Grotesken gegriffen. Die freche Persiflage auf das Vaterunser verliert in der sich überschlagenden Travestie ihre Schärfe; ironische Distanz legt sich dazwischen.
[…]
Orffs Einrichtung treibt die Groteske erst recht hervor. Die künstlich exaltierte Prosadiktion des Chores ist von greller Aufdringlichkeit, als seien die Worte mit lauter Großbuchstaben geschrieben. Den Intellektuellen ist die jahrtausendalte Maske vor der Bildung des Homo sapiens übergestülpt. Die Deklamation ist steinzeitlich verfremdet. Es ist weder ein Singen noch ein Sprechen.
Auch der Schlagwerksatz legt die Absichten des Musikers offen. Er wechselt zwischen gespielt klotziger Primitivität und kaschierter Raffinesse; so z.B. in der metrischen Verschiebung des Schlagwerks gegen den Chor.
Bei den »hohen« Worten, wie »Unsichtbarer«, »unendlich«, »Geheimnis«, »unerforschlich« wird die Szene zum Ritus einer Schwarzen Messe. Der Tanz um das technisierte goldene Kalb wird zelebriert. Aus dem Läuten der Glockenspiele und antiken Cymbeln über Becken, Triangel und Gong steigt musikalischer Weihrauch auf. Irrationale Spaltklänge mischen sich in die gleitenden Sextparallelen der Bässe. Legatobögen, Vorzeichnungen, Zurücknahme der Dynamik kennzeichnen die veränderte Atmosphäre.
[…]
Die Schlußpassage ist charakterisiert durch die bewußte Primitivierung des Schlagwerksatzes zur Geräuschcollage. Darüber schnurrt in den pervertierten Formeln des Gebets das sinnentleerte Geplärre eines eingelernten Parteiprogramms ab, das Negativ eines ekstatischen Rituals zur Heroisierung der Dummheit. Das triviale Schlagwerk signalisiert zum Schluß lautstark den Triumph des Unverstandes.
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Bericht vom Fliegen
Gemischter Chor
[…]
Der Text bildete zuerst den Schluß eines Hörspieles »Der Ozeanflug«, das Brecht im Anschluß an Lindberghs Atlantiküberquerung geschrieben hatte. Er hat ihn dann als Vorspruch in sein »Badener Lehrstück vom Einverständnis« übernommen.
Orff geht unberührt von der ideologischen Programmierung des Lehrstücks an den Text heran. Er isoliert ihn mit unbekümmertem Zugriff als lyrische Reflexion und setzt die Akzente nach seinen musikalischen Vorstellungen.
Ein maschinenhaft stampfender Klangsatz der Klaviere leitet den Text ein.
[…]
Die musikalische Erfindung im ersten Teil kumuliert in dem zentralen Bild: geflogen. Ein weitgespannter Klangzug aus gegeneinander sich verschiebenden Intervallen nach Art eines Mini-Kanon imaginiert den erstaunlichen Vorgang.
Die stärkste Faszination für den Musiker scheint aber von der Vorstellung der Zeit ausgegangen zu sein. »Tausend Jahre«, diese in Brechts Text nur ungefähre, fast beiläufige Angabe, wird zu einer musikalischen Demonstration der Zeit ausgebaut. In wechselnden Techniken umkreist der Musiker das Unbegreifliche: zunächst schwingende punktierte Klangketten der geteilten Männerstimmen, von Schlagwerkakzenten gestützt; daraus wachsen neumenartige Melismen »molto rubato quasi orientale« einer solistischen Altstimme. Die mehrfache Wiederholung der Worte: »tausend Jahre« in Abweichung vom Text bezeichnet die autonome musikalische Gestaltung: die Demonstration der Zeit wird zu einer Meditation über die Zeit.
Dieser statisch schwingende, weitgehend rezitativ ähnliche Mittelteil steht in starkem Kontrast zu den erregten schnellen Ecksätzen, die auch durch den Einsatz anderer Instrumente (vor allem der Klaviere) ein gegensätzliches Klangbild erhalten. Über die ungegliederte Prosa Gangart des Brechtschen Textes hinweg ist ein musikalisch eigengesetzlicher Formgrundriß entstanden. Der letzte Teil greift in seiner Haltung auf den ersten zurück.
[…]
Orff hatte daran gedacht, die Wiedergabe der Chorsätze mit einer Filmvorführung zu parallelisieren. In ruckhaften, mit den Phasen des musikalischen Ablaufs synchronen Überblendungen sollten die Bildkerne des Textes filmisch umgesetzt werden.
Folgende Motive schwebten ihm dabei vor:
Frühjahr: ziehende Wolken, Vögel und Leitungsdrähte in der Landschaft;
Öltank: Trickaufnahmen eines Öltanks, in seiner Umgebung eine wimmelnde Menschenmenge in der Situation einer Schwarzen Messe;
Fliegen: im ersten Teil naturalistische Reportage Aufnahmen vom Flugbetrieb auf einem Flugplatz, im Mittelteil Bilder der chinesischen Mauer mit langsam schreitenden Kamelen, vom Flugzeug aus aufgenommen.
Hier wäre das Bild zum Zeichen geworden für die zeitlose Präsenz der tausend Jahre, die Orff musikalisch fasziniert und ihn zu der selbständigen Meditation über die Zeit angeregt hatten.
Der Plan eines mit der Musik synchron laufenden Filmes wurde nie verwirklicht. Auch zu einer Aufführung, der Chorsätze kam es [vorerst] nicht.
Nachweise
Textnachweis Kommentar:
Werner Thomas: »Der Weg zum Werk«, in: Carl Orff (Hg.): Carl Orff und sein Werk. Dokumentation, Bd. I: Frühzeit, Tutzing 1975, S. 73-251, hier S. 222-238.
Bildnachweis:
[Titelseite] Carl Orff: Chorsätze nach Texten von Bert Brecht. Vom Frühjahr Öltank und vom Fliegen, Partitur, Edition Nr. 3268, Mainz 1932.