Des Turmes Auferstehung

für zwei Männerchöre und Orchester

Text von Franz Werfel

 

Textdichter/-vorlage: Franz Werfel

Besetzung: 2 Männerchöre und Orchester

Sprache: deutsch

Kompositionsjahr: 1910, rev. Fassung 1920

Uraufführung: 6. Dezember 1995 München (D) · Dirigent: Andreas S. Weiser · Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks · Chor des Bayerischen Rundfunks

Aufführungsdauer: 14′

Besetzung detailliert
Orchester: 5 (3. u. 4. auch Picc.) · Altfl. · 4 · Engl. Hr. · Heckelph. · 0 · 5 (5. auch Kfg.) · Kfg. – 0 · 8 ad lib. · 4 · 0 – P. S. (Zimb. · Beck. · Tamt. · Gl. · gr. Tr.) (3 Spieler) – 6 Hfn. (ad lib. 3) · 6 Klav. (ad lib. 3) · Org. – Str.

 

Aufführungsmaterial Schott Music

Kommentar
Das Wort »Turm« erscheint als symbolisches Schlüsselwort. Orffs Studien in dieser Epoche sind der Arbeit einer Bauhütte vergleichbar. Was sich in der Riesenpartitur des »Turm« vor dem Leser und potentiellen Hörer aufschlägt, mutet wie eine musikalische Projektion von Bauhüttengrundrissen an.

Bezeichnend für die neue kompositorische Situation ist die Tatsache, daß Vorstellungen und Entwürfe für eine derartig großräumige Komposition bereits vor Orffs Begegnung mit Werfels Text bestanden haben. Der Text hat demnach Charakter und Funktion eines Gerüstes, das zwar Voraussetzungen für den Bau schafft, aber nicht als Ziel und Erfüllung des Baues selbst gelten kann.

Die Konzeption einer Großform bedeutet den längst angezielten Übergang zu dem Einsatz von Chor und Orchester. Die Komposition gehört der gleichen Zeitphase an wie »Mondlied« und »Ode«. Die Reinschrift der Partitur trägt das Datum des 13. Juni 1920; eine Zweitschrift das des 26. Mai 192l. Die Abweichungen der beiden Niederschriften sind geringfügig. Ein wesentlicher Unterschied ist jedoch hervorzuheben: die Umstellung der beiden Solobässe der Erstkonzeption auf zwei Chöre. Der Text aus der Gedichtsammlung »Wir sind« von 1913 lautet:

 

DES TURMES AUFERSTEHUNG

Der Turm

Ich war ein Turm vor manchem Jahr,
Bis daß man mich zerbrach
Nun dröhnet die Posaunenschar,
Da bin ich worden wach.

Ein Garten stand um meinen Fuß,
Die Bäume waren lieb.
Mein Kranz war feurig von dem Gruß
Des Himmels, der weitertrieb.

Mein Maul war schwarz und knarrte wild
Von Eisen, das sich bog.
Allein mein Auge brannte mild,
Wann’s über die Stürme flog.

Der Fluß zog schwer an mir vorbei,
Der Flößerlampen Glühn.
Und unter meinem Einerlei
War die Schnittlauchlandschaft grün.

Ich liebe dich und liebe mich,
Mein Herr, laß mich bestehn!
Aus diesem Tage fürchterlich
In dein Reich eingehn!

 

Der Herr

Als ich mich schuf, da war’s mein Schmerz,
Der in die Weiten fuhr.
Und eines jeden Lebens Herz
Schlug meines Herzens Uhr.

Nun will mein Schmerz in mich zurück,
Da brach die Zinke los.
Und jedes Weh und jedes Glück
Stürzt sich in meinen Schoß.

Ach, als ich mich erschuf zur Welt,
Da war ich nichts und aus.
Jetzt aber bin ich neubestellt,
Und wachse wie ein Haus.

Und meine Liebe ausgestreut,
Wie sammelt sie sich hier!
Und jedes Wesen, das sich beut,
Ein Baustein ist’s an mir.

Turm, schwing’ dich auf, du treuer Mann,
In meinen Busen weit!
Es hebet, ja nun hebt sie an
Die große Kinderzeit.

 

Das Gedicht deutet den Jüngsten Tag nicht als Weltgericht, sondern im Sinne der Gnostiker als eine »Wiederbringung von allem« (nach Apostelgeschichte 3,21). Der Weltenschöpfer, der sich durch den Akt der Schöpfung schmerzlich zerteilt hatte, nimmt alles Geschaffene, so auch den geborstenen Turm, in sich zurück und gewinnt dadurch wieder ganz sich selbst:

Und jedes Wesen, das sich beut,
Ein Baustein ist’s an mir.

Für den »Kindheitsvirtuosen« Werfel, wie ihn Karl Kraus genannt hat, war dieser Neubeginn der Anbruch der »großen Kinderzeit«.

Die Größe des Gegenstandes legte für den Musiker die chorische Ausführung mit großem Orchester, die Zweiteiligkeit des Dialogs zwischen Partnern in verschiedenen Ebenen eine räumliche Anlage mit der Trennung der Schauplätze: »Himmel« und »Welt« für die beiden Chöre nahe.

Gedacht ist an eine doppelstöckige Aufstellung der Chöre in getrennten Ebenen. Chor I – ebenerdig – steht für den Turm, Chor II – in der Höhe postiert – für die Stimme des Herrn.

Besetzung:

Chor I, der Turm: Bässe und Tenöre
Chor II, die Stimme des Herrn: Bässe und Tenöre
Streicher
I. Gruppe: 1. Violinen, 2. Violinen, 3. Violinen
II. Gruppe: 1. Bratschen, 2. Bratschen, 1. Celli, 2. Celli, 1. Bässe, 2. Bässe
III. Gruppe: Celli, Bässe
6 Flöten (incl. 2 Altflöten), 6 Oboen (incl. Englischhorn und Heckelphon), 6 Fagotte (incl. 2 Kontrafagotte), 4 Posaunen, 8 Trompeten (ad lib.), 6 Harfen, 6 Klaviere, Pauken, Cymbeln, Becken, große Trommel, Tamtam, Glocken, Orgel

Es ist bezeichnend, daß die »romantischen« Instrumente, Hörner und Klarinetten, fehlen.

Die musikalische Anlage stellt sich dar als eine großdimensionierte Flächenkomposition auf dem Wege zu dem von Orff immer konsequenter verfolgten Perkussionsstil. Charakteristisch dafür ist die Hereinnahme von sechs Klavieren als Perkussionsinstrumente in das Orchester, die zu den im Erstentwurf vorgesehenen sechs Harfen als Unterbau hinzutreten.

Die vierzigzeilige Partitur macht schon optisch den Eindruck des Außergewöhnlichen. Die Notation kennt nur Halbe, Ganze und Breven. Es gibt keine Punktierungen und keine Ligaturen. Breit hingestreckte Klangebenen und mehrtönige Orgelpunkte stellen eine Gerüstfundamentierung dar. Die Faktur des Klangsatzes läßt auf einen Blick erkennen, daß es sich nicht um eine thematisch entwickelnde, sondern um eine statische, wenn auch schreitende und fließende Klangentfaltung handelt. Die Vortragsbezeichnung »Langsam, schreitende Halbe« bestimmt die Gangart des ganzen Werkes. Alles ist gebändigte und proportionierte tektonische Form.

Der durch das Gedicht vorgegebene Dialog zwischen dem irdischen und dem himmlischen Partner hat für die musikalische Großgliederung eine Zweiteilung zur Folge. Die Sprache ist in beiden Teilen zunächst monologisch‑reflektierend. Erst in der jeweils letzten Strophe wendet sich der Sprechende an sein Gegenüber. Das manifestiert sich musikalisch beim »Turm« durch die höchstmögliche dynamische Ausladung, die der breiten Orchesterausleitung bedarf; bei dem »Herrn« durch ein instrumentales Zitat seines Anrufes an den Turm, indem die Posaunen den Oktavanhub: »Turm, schwing dich auf!« dreimal wiederholen und damit den gewaltigen Schluß einleiten […].

Der erste Teil gleicht einer Schwarzweißzeichnung in überdimensionierten Linienzügen. Der einstimmige Textvortrag in diatonischen Schritten, den die Instrumente in der aus den Klavierliedern bekannten colla‑parte‑Technik mitmachen, alterniert mit instrumentalen Klangzügen. Ein Orgelpunkt auf D trägt einen rahmengebenden Quint‑Oktav‑Klang, innerhalb dessen eine Pendelfigur aus den Tönen d und e gleichsam als übermenschliches Schrittmaß hin und her schwingt.

Die »Landschaftsstrophen« des Turmes (2-4) sind aufeinander bezogen durch den klanglichen Oberbau eines je dreimal erklingenden, dreistimmigen Kanons der Holzbläser, der aus der melischen Substanz der Vokalstimme gebildet ist und strophenweise von den Flöten über die Oboen zu den Fagotten weitergegeben wird.

Mit dem Anruf des Turmes an den Herrn in der letzten Strophe kehrt in terrassendynamischem Kontrast die Diktion der ersten Strophe wieder. Die auf die Textworte: »Ich liebe dich« beginnende Kantilene wird abrupt abgebrochen durch eine lapidare Kadenz, die auf das Wort »fürchterlich« mit einem f‑Moll‑Dreiklang einsetzt. Ihr solitäres Auftreten ist von elementarer Wucht […].

Von der Schwarzweiß-Tektonik des Turmes hebt sich die Stimme des Herrn mit einem einmantelnden Dreiklang auf G in mystischer Leuchtkraft ab. Die Orgel gibt die Grundfarbe. Das scheinbare G‑Dur erweist sich freilich in der melischen Entfaltung als ein G‑Lydisch, das in der instrumentalen Schlußapotheose in C-Lydisch übergeht.

Der Klangsatz ist bis ins Detail aus der Substanz der Singstimme abgeleitet und nach dem aus den Klavierliedern bekannten Prinzip der Spiegelung gearbeitet […].

Diese Spiegeltechnik in der Terz, auf die vokalen und instrumentalen Klangzüge wechselseitig angewandt, bindet den Satz zur Einheit. Von Bratschen, Celli und Bässen eingeführt bildet sich ein Cantus von je sieben Takten aus, die von den Flöten wiederholt werden. Über die alternierenden Teile hinweg aber nehmen die Posaunen das Ertönen der göttlichen Stimme auf und lassen sie, am Schluß durch Trompeten verstärkt, in vierfacher Vergrößerung als einen choralischen Cantus firmus ertönen. Die Augmentation gibt der »Stimme« eine transzendentale Qualität. Die Einheit der musikalischen Substanz in dem Gegeneinander von Grundgestalt und Vergrößerung chiffriert die Idee: ein Dialog der Gottheit mit sich selbst in jener Weltstunde, in der sie die außer sich gesetzte Schöpfung wieder in die eigene Selbstheit zurücknimmt.

Dieser Augenblick der Wende ist musikalisch mit dem Umschlag in das C‑Lydische artikuliert. Trotz der modalen Färbung ist die im Bewußtsein latent empfundene elementare Kadenzspannung von G nach C in die Schlußbildung einbezogen. Sie bedarf des großräumigen Ausschwingens durch das volle Orchester. Glocken, Cymbeln, Becken bringen im Zusammenklang mit den Trompeten und dem langen Paukenwirbel auf C einen geradezu biblischen Glanz ein. Der Klang wird durch die Orgel gleichsam liturgisch versiegelt.

Die Partitur des Turmes wurde rasch entworfen und in kürzester Zeit fertiggestellt.

Die Erstschrift von 1920 wie die Zweitschrift von 1921 enthalten eine große Anzahl von Notizen, die belegen, wie sehr das Werk Orff noch weiterhin beschäftigte. Zu einer Aufführung kam es nie. Die Zeit hätte wohl für diesen einsamen Giganten keinen Platz und kein Verständnis finden können.

Auch im Schaffen Orffs blieb das Stück ohne Nachfolge. Zwar lagen weitere Planungen nach Texten Werfels vor, die bis in die Besetzung skizziert waren; aber sie wurden nicht ausgeführt.

Nachweise

Textnachweis Kommentar:

Werner Thomas: »Der Weg zum Werk«, in: Carl Orff (Hg.): Carl Orff und sein Werk. Dokumentation, Bd. I: Frühzeit, Tutzing 1975, S. 73-251, hier S. 170-183.

Bildnachweis:

[Titelseite] Carl Orff: Des Turmes Auferstehung – zwei Männerchöre für Orchester, Partiturautograph, 1920, BSB, Musikabteilung, Nachlass Carl Orff, Orff.ms.23 | © Carl-Orff-Stiftung/Archiv: Orff-Zentrum München.