Tanzende Faune

Ein Orchesterspiel op. 21

 

Besetzung: Orchester

Entstehungszeit: 1914

Uraufführung: 6. Dezember 1995 München, Gasteig, Philharmonie (D) · Dirigent: Andreas Sebastian Weiser · Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks

Aufführungsdauer: 15’

Besetzung detailliert
Orchester: 4 · 2 · Engl. Hr. · 3 · 3 – 4 · 2 · 0 · 0 – P. (2 Spieler) S. (Trgl. · Beck. · Tamt.) – 2 Hfn. · Cel. · Klav. (2 Spieler) – Str. (16 · 16 · 8 [mögl. 16] · 8 [mögl. 16] · 4)

 

Aufführungsmaterial Schott Music

Kommentar
Faune und Pan sind von alters her der Musik verbunden. Sie lieben den Tanz. Der Mythos nennt Pan den Erfinder der Hirtenflöte. Er verfolgt die Nymphe Syrinx, die von ihren Schwestern in einen Schilfrohrbusch verwandelt wird. Davon schneidet er einige Rohre ab und bindet sie zur Flöte zusammen.

Debussys »Prélude à l’après-midi d’un faune« (1894) geht von dieser bukolischen Szenerie aus. »Ein Hirte sitzt im Gras und spielt auf der Flöte«; so hat Debussy selbst das Flötensolo des Anfangs gedeutet (nach L. Vallas, Debussy und seine Zeit, München 1961, 174).

Das Atmosphärische dieses Werkes mußte den jungen Orff ebenso inspirieren wie der neuentdeckte Klangstil im ganzen den er nach den Erfahrungen des »Gisei« an einem Orchesterwerk erproben wollte. Plan und Ausführung folgten einander in kurzer Zeit. Als Datum des Abschlusses nennt der Entwurf der Partitur den 23. Januar 1914.

Der Titel Tanzende Faune ist trotz seiner jugendstilhaften Prägung zweifellos von Debussy angeregt. Nach dem Hintergrund von Debussys Musik, der Ekloge Stéphane Mallarmés, zu fragen, bestand für den jungen Orff offenbar kein Anlaß. Es ist jedoch im Hinblick auf Orffs Untertitel: Ein Orchesterspiel eine seltsame Konstellation, daß Mallarmé für die Erstfassung seiner Ekloge eine szenische Darstellung im Theater vorgesehen hatte. Dazu ist es nie gekommen. Wohl aber hatte Debussys Prélude, trotz langen Sträubens des Komponisten, eine Ausdeutung als Ballett bereits erfahren. Nijinsky hat im Mai 1912 im Théatre du Chatelet in Paris das Werk choreographiert und selbst den Faun getanzt.

Im Gegensatz zu Debussys symphonischer Konzeption und seinem Widerstand gegen tänzerische Umsetzung geht Orff von Bewegungsvorstellungen aus. Sein Stück ist imaginierter Tanz.

Spezielle Einflüsse von Debussys Orchestergedicht auf Orffs »Orchesterspiel« sind nicht erkennbar. Nach den Einträgen der großväterlichen Chronik ist es sogar wahrscheinlich, daß Orff Debussys Prélude damals noch gar nicht im Konzertsaal gehört hatte.

Schon die Orchesterbesetzung gibt darüber Aufschluß, was Orff vorschwebte. Zu drei Flöten im Orchester kommt eine vierte als »Echo« von außerhalb, weiterhin 2 Oboen, Englischhorn, 3 Klarinetten, 3 Fagotte, 4 Hörner und 2 Trompeten, ferner Pauken, Becken, Triangel und Tamtam. Zum vierhändigen Klavier treten zwei Harfen und Celesta. Die große Streicherbesetzung verlangt 8 Pulte erste Violinen, 8 Pulte zweite Violinen, 2 Pulte erste und zweite Bratschen, je 2 Pulte Celli sowie 2 Pulte Bässe.

Der Anfang des Stückes ist typisch für Orff. Das Thema der Soloflöte wächst aus einem Orgelpunkt auf cis in den sordinierten Geigen und Celli, welchen Tremoli der Celesta und Farbtupfer der Harfen ein flirrendes Licht hinzufügen. Die Flötenmelodie, »sehr zart, weich und ausdrucksvoll« und eine echoartige Responsion dazu imaginieren Raumklang und tänzerische Aktion.

In der Mitte des Stückes ist ein dicht gewebter Klangschleier ausgebreitet. Die Flageolettöne der drei ersten Pulte der Geigen erzeugen im pp bis ppp einen entmaterialisierten Klang, der eine suggestive Farblichkeit ausstrahlt. Das stufenweise Schweben nach unten wird von den übrigen Pulten im ppp mitvollzogen. Bei dieser Klangvision hat Debussys »voilé« Pate gestanden […].

Aus dem sich fortspinnenden Gewebe löst sich als Reprise die Flötenmelodie des Beginns wieder heraus. Die grundierende klangliche Textur stellt sich als harmonische Ausdeutung der melodischen Linie dar.

Die Weiterführung resultiert folgerichtig aus den zwar immer wieder angehaltenen, zurückgenommenen oder kurz gestauten Bewegungsmodi, deren Aneinanderreihung im ganzen aber eine kontinuierliche Temposteigerung erkennen läßt. Dazu tritt eine ausgeprägte dynamische Flexibilität, gleichsam ein ständiges tänzerisches Mitatmen der Klangbewegung.

Für Orff bezeichnend ist die häufige Wiederkehr von Raum- und Richtungsangaben, z.B. »wie aus der Ferne kommend«, »ganz von fern klingend«. Die Tanzbühne mit ihren verschiedenen Dimensionen ist in der Musik ständig präsent. Man kann dieses Faktum und die in den einzelnen Phasen imaginierten tänzerischen Aktionen allein an der Folge der Vortragsanweisungen wie an einem Strukturdiagramm ablesen.

Auf den gleichen Sachverhalt weist die Satztechnik. Aus dem Zerspielen der thematischen Substanz durch Zerlegung des Hauptthemas in kleine Bewegungsmotive entwickeln sich reizvolle metrische Kontraste, die als Impulse für tänzerische Bewegungsvarianten zu verstehen sind. Anweisungen wie »Leidenschaftlich bewegt« oder »Plötzlich etwas zurückhalten« oder gar ein in den Celli versteckter zusätzlicher Hinweis: »Mit unterdrückter Leidenschaft« sollen sicherlich nicht nur an die Adresse der Musiker, sondern auch an die der Tänzer gehen.

Die Schlußbildung hat die Rasanz eines Opernfinale. Nach einigen Stretta‑Takten mit fortwährend sich verschiebender, schwingender Klanggewichtung folgt ein im Tutti ausgehaltener stehender Klang. Ein kontinuierlich wachsender Wirbel auf dem mit Paukenschlägeln geschlagenen Becken signalisiert die gespannte Innendynamik des clusterartigen Klangpfeilers. Tonketten des Klaviers, die von Vierteln über Triolen zur Achtelbewegung akzelerieren, geben ihm eine entsprechende Modellierung.

Es folgt ein abruptes Abbrechen; dann doppelt so langsam, durch einen Triangelschlag ausgelöst, drei Akkorde von Celesta, Harfe und Klavier; daraus wieder hervorbrechend eine in Zweiunddreißigsteln abstürzende Klangkaskade des Klaviers, während die Flöten und Geigen den »Startton« der Kaskade, cis, – zugleich der ostinate Anfangston des Stückes – im Verklingen gleichsam an sich reißen und in der Luft hängen lassen. Ein Glitzern der Celesta, worauf die zweite Flöte mit einer Schlußarabeske antwortet, markiert das Ende.

Das »Finale« demonstriert, wie sehr Orff bei aller Hingabe an Debussy ein Eigener geblieben ist. Der lyrischen Impression in Debussys Prélude, das einem bukolischen Bilde von hoher Schönheit gleicht, dessen Linien und Farben durch ein wechselnd darüberstreichendes Licht bald hier, bald dort stärker hervorgehoben werden, steht Orffs Orchesterspiel gegenüber als eine in expressiver Gestik sich entladende, tänzerisch gesteuerte Aktion.

Im Geiste des klassischen »ballet d’action« hat er die Möglichkeit eines neuen Tanztheaters erprobend angezielt.

Nachweise

Textnachweis Kommentar:

Werner Thomas: »Der Weg zum Werk«, in: Carl Orff (Hg.): Carl Orff und sein Werk. Dokumentation, Bd. I: Frühzeit, Tutzing 1975, S. 117-123.

Bildnachweis:

[Titelseite] Carl Orff: Tanzende Faune – Ein Orchesterspiel, Partiturautograph, 1914, BSB, Musikabteilung, Nachlass Carl Orff, Orff.ms.59 | © Carl-Orff-Stiftung/Archiv: Orff-Zentrum München.