Orff-Schulwerk

Musik für Kinder

Teil 2

 

Verfasser: Carl Orff, Gunild Keetman

Mitwirkende: Chor der Augsburger Singschule, Leitung: Josef Lautenbacher; Kinderchor des Trapp’schen Konservatoriums, Leitung: Richard Boeck; Münchner Chorbuben, Leitung: Fritz Rothschuh; Gesamtleitung: Carl Orff und Gunild Keetman

Format: Vinyl, LP

Label: Columbia ‎– C 80 108, Columbia ‎– 33 WSX 511

Publikationsjahr: 1958

Inhalt
Dur: Bordun

Sechstonraum der Melodie

A1 I Wiegenlieder und Spielstücke
A2 II Tanzlieder und Instrumentalsätze
A3 III Alter Spruch

Siebentonraum der Melodie

A4 IV Scherzlied
A5 V Spielstücke
A6 VI Zaubersegen und Sprüche
A7 VII Grußlieder
A8 VIII Spruchweissheit
A9 IX Narrenschwank

Rhythmische Übung

B1 X Improvisation auf Trommeln und mit Fuß und Hand
B2 XI Sprechübung
B3 XII Magisches »Besprechen«

Stufen

Die erste und die zweite Stufe

B4 XIII Sommerkanon
B5 XIV Spiel- und Tanzstücke
B6 XV Dreiklangsparallelen als entfaltete Einstimmigkeit
B7 XVI Schreit- und Springtänze

Die erste und die sechste Stufe

B8 XVII Spruch und Spielstück

Kommentar
CarI Orffs »Musik für Kinder« verwirklicht in ursprünglicher Gestalteinheit von Musik, Sprache und Bewegung kindhafte Spielwelt. Spiel des Kindes ist schöpferisches Tun. Im Spiel gibt es keine Spaltung von Ich und Welt, von Wesen und Ding. Das Kind lebt in den Dingen und sie leben in ihm. Frei waltet es kraft seiner Ein-Bildung in einem Bereich imaginärer Figuren und Sachverhalte.

Man sagt, das lndividuum durchlaufe noch einmal die Entwicklung der Gattung. Das heißt, ins Geistige übertragen, daß die Spielwelt des Kindes die archaischen Frühstufen des Wachstums der Völker wiederspiegele. Poetische Zeugnisse dieser Frühstufen in Sprache und Klang sind die Zauberformel und der Seherspruch, die Weisheitsregel und der Volksbrauch, das Sprichwort und das Rätsel, die Sage und das Lied, das Märchen und die Legende.

Solche Wurzeln unseres geistigen Wachstums sind im Spiellied des Kindes noch sichtbar. Erinnerungen aus Mythus und Kult, aber auch geschichtliches Gedächtnis sind in ihm aufbewahrt. So ist das Kinderlied selbst ein Stück »Volkspoesie«.

Die Überlieferungsform dieser naturwüchsigen namenlosen Dichtung ist die klingende Weitergabe von Mund zu Mund. Volksdichtung war nie Literatur. Sie hatte Ihren festen Ort im Leben und ihre bestimmte Gelegenheit, bei der sie erklang. Schriftliche Aufzeichnung muß daher, wie Orff selbst sagt, notwendig ein Versuch bleiben. Die Veröffentlichung auf der Musikplatte aber kommt dem Wesen dieser klingenden Sprache entgegen.

lhre natürliche Sprachgestalt ist der Dialekt. In ihm offenbart sich der Wurzelgrund der Sprache. An Wortreichtum, Bildkraft, Sinnfülle und Gestik der Wortprägungen ist er der Schriftsprache vielfach überlegen. »Man fühlt, daß eine geläuterte Schriftsprache, so gewandt sie in allem Übrigen sein mag, heller und durchsichtiger, aber auch schmackloser geworden ist und nicht mehr so fest dem Kerne sich anschließt« (J. Grimm).

Nur ein schöferischer Mensch, der erbmäßig, landschaftlich und geistig in den Bindungen einer bis in archaische Grundschichten zurückreichenden Überlieferung steht, konnte diese Schätze für unser Jahrhundert heben.

Herder hatte, angeregt durch Sammlungen englischer Dichter, in seinen »Stimmen der Völker« von 1778 der Urpoesie der Völker leidenschaftlich nachgespürt. Ihm sind die Romantiker mit der Sommlung »Des Knaben Wunderhorn« gefolgt. Orff setzt noch tiefer an. Ausgehend von den einfachsten Zeugnissen deutscher Landschaften läßt er exemplarische Gebilde der »Naturpoesie« erklingen. Dann aber werden – im Einklang mit dem geistigen Wachstum des Kindes – auch spätere Sprachschichten einbezogen, die vielfältig von der »Naturpoesie« befruchtet worden sind. Von Rufen und Reimen, Sprüchen und Spielliedern führt der Weg über Sprachformen auch anderer europäischer Völker bis zu Versen Goethes und Hölderlins.

Aus diesem Wissen um die geistige Einheit unseres Erbes erwächst auch die Klangwelt des »Schulwerks«. Der kindhaften Mentalität sind die elementaren Formen der Satztechnik angemessen: Haltetöne, Zentraltöne und stehende Klänge, Bordun und Ostinato. Solche Techniken liegen aber auch den Frühstufen unserer abendländischen Mehrstimmigkeit zugrunde. Dies macht die doppelte Bedeutung der »Musik für Kinder« offenbar: sie rückt einen eigenständigen, geschichtlich gewachsenen Musikbereich ins Bewußtsein, sie verwandelt aber zugleich jene Frühstufen in elementare Formgebilde zurück und läßt sie damit dem Kinde spielend zum geistigen Besitz werden.

Worin besteht nun die unverwechselbare Sonderart des »Schulwerks«, die es von anderen, äußerlich ähnlichen musikpädagogischen Absichten scheidet?

1. Das »Schulwerk« verzichtet auf falsche Simplifizierung. Denn die Welt des Kindes ist weder primitiv noch vorläufig. Das Kind repräsentiert vielmehr ein bestimmtes Verhalten zur Welt kraft einer ungebrochenen Phantasie. In der Wort- und Klangmagie der »Musik für Kinder« entsteht eine heile Welt. »Es geht innerlich durch diese Dichtungen jene Reinheit, um derentwillen uns Kinder so wunderbar und selig erscheinen« (Brüder Grimm in der Vorrede zu ihren Märchen).

Kinderwelt ist aber auch dem erwachsenen Menschen nicht verloren. Vielfach von Konvention und Gewöhnung überkrustet und verschüttet, erwacht sie bei der Begegnung mit einfachen Sprach- und Spielformen und zieht uns in den ganzheitlichen Bewegungsmodus von Klang, Sprache und Gebärde hinein.

2. Das »Schulwerk« verzichtet auf falsche »Modernität«.

Der Entwicklung des Kindes entspricht das Fortschreiten von der Pentatonik zur Diatonik. Es ist falsch, an Stelle der geschichtlichen Grundstrukturen von einer konstruktiven lntervallenlehre auszugehen. Orffs »Schulwerk« ist ein Protest gegen die rationalisierte Systematik der musikalischen Elementarunterweisung.

3. Das »Schulwerk« verzichtet auf die verfrühte Hereinnahme von Begriffen und

Vorstellungen aus der heutigen Stufe der Zivilisation in die kindliche Spielwelt. Es ist ein verhängnisvoller Wahn, eine – angeblich gewandelte – Kindwelt künstlich zu schaffen und auf das »moderne« Kind einzugehen. Dieses moderne Kind gibt es nicht. Die Welt der Technik und der Kausalität, in der das Kind äußerlich aufwächst, hat dort ihre Grenze, wo die rational meßbaren Sachverhalte enden. Sie bleibt daher seelisch und geistig unfruchtbar. Sie im Spiel abzubilden, ist ein pädagogisch sinnloses Unterfangen, das über ein vordergründiges »lnteresse« nicht hinausführt.

Schon das kindliche Vor- und Frühbewußtsein ist durch die Bildersinflut der Zivilisation bedroht. Die »Musik für Kinder« leitet die Phantasie zu den Urbildern in Natur und Schöpfung. Sie entbinden im Kinde ihre ordnende, lösende und heilende Kraft.

4. Das »Schulwerk« verzichtet auf jeden Fortschrittswahn.

Es wäre eine Verkennung, die Stücke des »Schulwerks« primitiv zu nennen, weil sie den Anfangsstufen der Musik und Sprache zugehören. Es sind elemenlare, aber gehaltvolle und durchgestaltete Formgebilde.

Ihre Strukturen fügen sich keiner fortschreitenden Systematik. Schon durch die Eigenart ihrer Elemente unterscheidet sich »Musik für Kinder« von anderen Lehrwerken, die mit dem vermeintlich Einfachen der Ein- und Zweistimmigkeit beginnen und schrittweise zum »Schweren« mehrstimmiger und mehrteiliger Formgebilde aufsteigen. Zwar werden Bordun, Stufen und Dominanten, Zwei-, Drei-, Fünf- und Siebentonraum, Dur und Moll in schrittweisem Nacheinander eingeführt, das Maß des Vorgehens aber ergibt sich – wie bei der Wahl der Texte – aus der Weitung der kindlichen Mentalität.

5. Das »Schulwerk« verzichtet auf Bearbeitung der überlieferten Sprachgestalt und auf Neuerfindung von Texten.

Ausgeschlossen sind also alle »Schulverschen für die Kleinen und die schreckbare Kindergärtner Unpoesie« (so F. M. Böhme 1876 in seinem »Altdeutschen Liederbuch«). Die Texte sind entweder gewachsenes Gut der »Naturpoesie« oder sie entstammen epischer und lyrischer Dichtung.

6. Das »Schulwerk« verzichtet auf »Komposition« im Sinne des subjektiven romantischen Einfalls und der musikalischen Ausdeutung eines Textes.

Dem vorindividuellen Charakter der epischen Sprachwelt entspricht eine festumrissene Klangwelt mit einem sinnentsprechenden lnstrumentarium. Stabspiele und Schlagwerk sind ihre wesentlichen Träger. Diese weitgehend verschüttete sprachliche und muskalische Wirklichkeit hat Orff von unserer Bewußtseinslage her neugestaltet.

Er greift in die Tiefe der Geschichte, wo sich dem schöpferischen Ohr und Sinn des Musikers Reste des Menschheitsgedächtnisses an den »Morgen der Welt« (Herder) als urtümliche rhythmische und klangliche Formeln offenbaren. Die Formel aber ist das Zeichen epischen Erklingens in der Sprache als Wiederholung eines fixierten Wortlauts, in der Musik als Bordun oder Ostinato. Sie bestimmt in hundertfältiger Vanriation den Ablauf der Stücke, der Sprechübung, des Spielliedes, der lnstrumentalimprovisation. Diese Formeln aber sind, in genauer Parallele zur epischen Sprache, nicht eindeutig. »Wiederholungen einzelner Sätze, Züge und Einleitungen sind wie epische Zeiten zu betrachten, die, sobald der Ton sich rührt, der sie anschlägt, immer wiederkehren«. Was die Brüder Grimm für das Märchen feststellten, das gilt wörtlich für die Fundamentformeln im »Schulwerk«. Sie sind nicht individuell, sondern typisc h. Aus dem vorindividuellen Klanggrund enfaltet sich erst die charakteristische Situation des jeweiligen Stückes. Die melodischen Abläufe, teils überliefert, teils frei erfunden, sind gleichsam nur Ausstrahlungen der Fundamentformeln. Die Stücke sind somit ihrer Struktur nach nicht als Kompositionen, sondern als lmprovisationen anzusprechen. Was auf der Platte erklingt, ist nur eine der vielen Gestaltvariationen, in denen die Stücke verwirklicht werden können.

Damit aber wird ihr Charakter völlig deutlich: es sind Modelle, an denen weiterzubauen die Phantasie des Spielenden aufgerufen ist. Denn das Modell enthält nur die Struktur, es reizt zum Weiterbilden und bleibt offen für alle Möglichkeiten. Die Formel, bis zu einem gewissen Grade lehrbar, ist der Schlüssel zur Formenwelt der nachgestaltenden Phantasie. Das Modell freilich muß ein schöpferischer Geist hinstellen, der die innewohnenden Möglichkeiten der Gestaltung ahnend und planend überschaut. Er gibt das Zeichen.

Man hat Orffs Schaffensweise gelegentlich Klangregie genannt. Das trifft insofern genau zu, als alles, was er berührt, in geheimer Nachbarschaft zur Szene steht. Auch das »Schulwerk« kann – wie sein Bühnenwerk – mit einem Wort Herders als ein »Reichtum zauberischer Weltszenen« angeschaut werden. Damit wird der Rang sichtbar, den die »Musik für Kinder« in Orffs Gesamtwerk einnimmt. Hier kristallisieren sich die Elemente, mit denen er musiziert, es ist die wurzelhafte Konstante seines Schaffens.

Nachweise

Textnachweis Kommentar:

Werner Thomas: » CarI Orffs »Musik für Kinder […]«, in: [Booklet] Carl Orff, Gunild Keetman (Hrsg.): LP, Orff-Schulwerk. Musik für Kinder – Teil 1, Columbia C 80 107, 1958, o. S.

Bildnachweis:

[Cover] Carl Orff, Gunild Keetman (Hrsg.): Orff-Schulwerk. Musik für Kinder – Teil 2, LP, Columbia C 80 108, 1958.