Entrata
nach William Byrd für fünfchöriges Orchester und Orgel
Besetzung: Orchester und Orgel
Entstehungszeit: 1928, rev. 1940
Uraufführung (1. Fassung): 1930 Königsberg · Dirigent: Hermann Scherchen
Uraufführung (endgültige Fassung): 28. Februar 1941 Frankfurt/Main (D) · Dirigent: Franz Konwitschny · Städtisches Opernhaus- und Museums-Orchester
Aufführungsdauer: 12′
Besetzung detailliert
Weitere Fassungen
Entrata
nach William Byrd (kleine Fassung)
Einrichtung für mittlere und kleinere Orchesterbesetzung und Orgel von Robert Wagner (1954)
Orchester (mittlere Besetzung): 4 · 4 (1. u. 3. auch Engl. Hr.) · 0 · 2 · Kfg. – 4 · 8 · 3 · 1 – 8 P. (2 Spieler) S. (Beck. · Glsp.) – 2 Hfn. · Cel. · 2 Klav. 4 hd. · Org. – Str. Kleinere Besetzung: 3 · 3 (1. u. 3. auch Engl. Hr.) · 0 · 2 · Kfg. – 4 · 6 · 3 · 1 – 8 P. (2 Spieler) S. (Beck. · Glsp.) – Hfe. · Cel. · 2 Klav. 4 hd. · Org. – Str.
Aufführungsmaterial Schott Music
Entrata
nach William Byrd (Blasorchesterfassung)
Fassung für sinfonisches Blasorchester und Orgel von Guy M. Duker
Orchester I: Org. – 3 Korn. in Es · 6 Hr. · 4 Pos. · 2 Euph. · 2 Ten.-Hr. · 5 Tb. – 1 Kfg. – Beck.
Orchester II: 4 Trp. in B – 2 P.
Orchester III: 4 Trp. in B – 2 P.
Orchester IV: 3 Fl. · 2 Ob. · 2 Klar. in B · 1 Altklar. · 1 Bassklar. · 1 Altsax. · 1 Baritonsax. · 1 Fg. – 1 Kb.-Klar. in Es – 1 Str.-Bass – 3 Glsp.
Orchester V: 3 Fl. · 2 Ob. · 2 Klar. in B · 1 Altklar. · 1 Bassklar. · 1 Altsax. · 1 Baritonsax. · 1 Fg. – 1 Kb.-Klar. in Es – 1 Str.-Bass – 3 Glsp. · Hfe. · Cel. · Klav. (2 Spieler)
Kommentar
»Gegen Ende der zwanziger Jahre wurden verschiedenen Orts Versuche mit Musikübertragungen durch Großlautsprecher im Freien gemacht. Diese neuen technischen Errungenschaften und Möglichkeiten reizten mich, für solche Gegebenheiten eine eigene Musik zu entwerfen oder einzurichten.
Mehrchörigkeit schien mir für den Stil eines derartigen Musizierens richtig und anwendbar.
Die Mehrchörigkeit, das Musizieren mit getrennt voneinander aufgestellten Chören – instrumental wie vokal – entstand im 16. Jahrhundert in Italien und breitete sich bald über weite Bereiche Europas aus. Die Aufführungen vielchöriger Musik bei kirchlichen und weltlichen Feiern im Dom von San Marco in Venedig waren weltberühmt. War dieses Musizieren an große und besonders dafür erbaute Innenräume gebunden, so wollte ich ein Gleiches mit den neuen technischen Mitteln im Freien versuchen. Ich stellte mir vor, Musik durch Großlautsprecher von Türmen, die zueinander in bestimmter Kommunikation standen, zu senden. Aber auch in großen Höfen oder auf Plätzen einer Stadt, mit Lautsprechern, die auf Balkonen, Terrassen, Balustraden, Galerien aufgestellt waren, hielt ich ein solches Musizieren für denkbar. Durch die aus verschiedenen Richtungen und Entfernungen zusammentreffenden Schallwellen sollte ein neues Hörerlebnis vermittelt werden.
Auf der Suche nach einer geeigneten musikalischen Vorlage fand ich unter den Werken der englischen Virginalisten ein Klavierstück ›The Bells‹ von William Byrd (1534‑1663), das mir, entsprechend ausgearbeitet, für den geplanten Versuch geeignet schien. Es war großräumig und statisch, von Anfang bis Ende auf einem zweitönigen Glockenbaß‑Ostinato aufgebaut.
William Byrd ist der größte Komponist der elisabethanischen Epoche und zweifellos einer der größten Musiker des Abendlandes. Seine Meisterschaft erstreckt sich auf alle kompositorischen Werkarten seiner Zeit: Messe, Motette, Madrigal und Klaviermusik. Obgleich in der Tradition stehend, war er frei von Konvention, neu, kühn und stilbildend für seine musikalischen Nachfahren.
Zur Zeit Byrds erschien eine Sammlung von Klavier‑(Virginal‑)Stücken, das berühmte ›Fitzwilliam Virginal‑Book‹. Diese Sammlung enthält nahezu dreihundert Klavierstücke von Zeitgenossen Byrds, darunter John Bull, Th. Morley, P. Philips und John Dowland. Es sind nicht nur Originalkompositionen, sondern vielfach, einer Gepflogenheit der Zeit folgend, Bearbeitungen von Vokal‑ und Instrumentalmusik. Ebenfalls im Virginalbook mit eigenen Bearbeitungen vertreten ist der Lehrer Byrds, Th. Tallis, der auch eine berühmte vierzigstimmige Motette ›Spem in alium non habui‹ geschrieben hat. Die vielchörige Schreibweise war also damals in England keine Seltenheit.
Meine erste Fassung der Um‑ und Neugestaltung von Byrds Glockenstück ›The Bells‹ bezeichnete ich als ›Entrata‹, ein feierliches Einleitungs‑ oder Eröffnungsstück, dessen Titel Art, Zweck und Verwendung dieser Musik apostrophierte.
Wurden seinerzeit im Fitzwilliam Virginalbook Bearbeitungen aller möglichen Musikstücke für Klavier gesammelt, so wandelte ich in umgekehrter Arbeitsweise ein Klavierstück in ein mehrchöriges Orchesterwerk um.
[…] Ich zeigte die Partitur Hermann Scherchen, der für ein Rundfunk‑ und Lautsprecher‑Experiment sofort eingenommen war. Er wollte den Versuch im Sommer 1930 anläßlich des Tonkünstlerfestes des »Allgemeinen Deutschen Musikvereins« ansetzen, das in jenem Jahr in Königsberg stattfand. Das dortige weitläufige Messegelände, in dem drei Lautsprechertürme in entsprechender Entfernung voneinander eigens aufgebaut wurden, bot sich als ein zwar nicht ideales, aber mögliches Versuchsfeld an. Scherchen dirigierte die als Hauptorchester zusammengezogenen Chöre I, IV und V im großen Sendesaal des Funkhauses; die zwei Trompeten‑ und Paukenchöre II und III, die in jeweils einem anderen weit entfernten Raum aufgestellt waren, leitete er mit Hilfe eines Tasters durch Lichtsignale. Die Musik der drei Instrumentengruppen wurde einzeln auf die drei Lautsprecher übertragen, um sich dann, aus drei Richtungen kommend, zu einem gleichsam perspektivisch wirkenden Gesamtklang zu vereinigen. Bei diesem Versuch ergaben sich überraschende und, wie man damals schrieb, ›bestürzende‹ Aspekte. War eine absolute Genauigkeit des Zusammenspiels auch nicht immer erreichbar ‑ wir befanden uns in der Jugendzeit des Rundfunks ‑ so konnte man doch ahnen, welche Möglichkeiten sich hier eröffneten.
Viele der damaligen Hörer hätten die Vorführung gern noch ein zweites Mal erlebt. Wie auf Verabredung wurde immer wieder von ›Turmmusik‹ gesprochen. Die allgemeine Meinung ging dahin, daß solche Musik, von Türmen oder auf großen Plätzen im Inneren einer Stadt gesendet, neue Wege für ein festliches, heraldisches Musizieren weisen könne. Solche Gedanken kamen meinem ursprünglichen Plan ganz nahe. Leider blieb es bei diesem einen Versuch, er wurde nie wiederholt, geschweige denn weitergeführt. Es hätte noch vieler Experimente bedurft.
Nach München zurückgekehrt faßte ich gleich einen neuen Plan einer ›Münchner Turm‑ und Stadtmusik‹. Dafür mußte aber erst eine neue Musik entworfen werden.
Von der Galerie des Turmes der Münchner Peterskirche, dem ›Petersturm‹, sollten vielstimmige Trompetenfanfaren auf den Marienplatz als optimalen Punkt der Klangerfassung gesendet werden, denen von den ferner gelegenen Frauentürmen ebenfalls Trompetenfanfaren echoartig antworten sollten. Weiterhin sollte vom ›Alten Rathausturm‹, also aus nächster Nähe, ein grundierender, aus vielen Ostinatostimmen zusammengesetzter Bordun mit Klavieren, Pauken, Becken und anderem Schlagwerk, Hörnern und Tuben, ausgestrahlt werden. Über dem Klanggewoge wollte ich auf dem Glockenspiel des hohen »Neuen Rathausturms« frei »mit Hand« einen cantus firmus improvisieren. Ich hatte schon früher das Turmglockenspielen versucht und war auf diesem Gebiet kein Neuling mehr. Mit Ausnahme des Glockenspiels sollten alle Musiken wie seinerzeit in Königsberg aus getrennten Aufnahmeräumen im Funkhaus über Großlautsprecher gesendet werden. Ich stellte mir vor, Beginn und Ende wie auch das Zusammenspiel der einzelnen Übertragungen von einer zentralen Stelle aus durch Lichtzeichen zu leiten. Der besondere Stil der von mir geplanten Musik hätte, auf der Grundlage des bindenden Borduns, jederzeit ein freies Variieren eines gegebenen Hauptzeitmaßes zugelassen. Der Versuch sollte in der Stille der späteren Nachtstunden stattfinden. Das vielbesprochene und von Fachleuten diskutierte Projekt wurde aber schließlich doch als utopisch abgelehnt.
Im Jahr nach dem Königsberger Versuch, im Mai 1931, setzte Scherchen auf meine Veranlassung im Rahmen einer Festwoche der ›Zeitgenössischen‹ in München eine erste Aufführung der Entrata im Konzertsaal, im Odeon, an. Der Eindruck war für mich unvergleichlich stärker als der des Versuchs auf dem Königsberger Messegelände, von dem ich mir so viel versprochen hatte.
Diese vielchörige und vielstimmige Entrata‑Musik verlangte vor allem einen großen, mitschwingenden und mitklingenden Raum. Die nun getrennt aufgestellten Chöre IV und V, wie auch die beidseitig in der Höhe, auf der Galerie postierten Trompetenchöre, überrollt von den Klangkaskaden der Orgel und gestützt von statischen Klangsäulen, kamen nur im großen, akustisch prädestinierten Raum durch Hall und Widerhall zur vollen Wirkung. Nicht zu übersehen war, daß der visuelle Eindruck einer solchen Aufführung den musikalischen mitbestimmte und verstärkte.
Als ›Apotheose des Dreiklangs‹ wurde das Stück bezeichnet, was in der damaligen Musikwelt beinahe einer Herausforderung gleichkam. In den folgenden Jahren beschäftigten mich noch manche Entwürfe für Turm‑ und Glockenmusiken, die sich jedoch nicht in meinem Sinn realisieren ließen. Ich fand nicht die richtigen musikalischen und technischen Mitarbeiter, auch fehlte es mir an den entsprechenden Institutionen, ohne die solche Unternehmungen nicht möglich sind.
Erst 1941 wandte ich mich nochmals der Entrata zu und gab sie nach einer letzten Überarbeitung in ihrer nun endgültigen Fassung für konzertante Aufführungen heraus.
[…] Diese Letztfassung kam am 28.2.1941 in den Frankfurter Museumskonzerten mit Franz Konwitschny am Pult zur Uraufführung und wurde von Publikum und Presse mit großer Zustimmung aufgenommen.
Es folgten viele konzertante Aufführungen, meist zu besonderen, festlichen Anlässen, Eröffnungen und Feiern aller Art.
Zugleich brachte der Verlag Schott eine große Faksimilepartitur heraus, die die Klänge der Entrata auch visuell dokumentiert.
Nach der Frankfurter Aufführung schrieb K. H. Ruppel:
›Auch wenn Orff ‚absolute Musik‘ schreibt wie in der fünfchörigen ‚Entrata‘ für Orchester, steht dahinter ein bildhaftes Geschehen, ein großer Aufzug oder eine festliche Improvisation, wie sie der dekorative Sinn der Renaissance oder des Barocks liebt. Überall da, wo ein elementarer Theatertrieb zur Gestaltung drängt, inspiriert sich der Musiker, der Szeniker Orff.‹
Ruppel hatte die Entrata richtig gedeutet. Bei den festlichen Veranstaltungen zur Wiedereröffnung des neu erstandenen Nationaltheaters in München kam das Werk am 3.12.1963 als ›Weihe des Hauses‹ in choreographischer Gestaltung durch das ganze Ballettkorps zur Aufführung. Heinz Rosen hatte für Helmut Jürgens‘ letztes Bühnenbild, das in monumentaler Plastik die klassizistischen Dekors des Hauses auf der Bühne fortsetzte und den Zuschauerraum ins Unendliche zu dehnen schien, eine die Riesenbühne nützende, den Raumwirkungen der Musik kongruente Choreographie im Stile eines festlichen Einzugs entworfen.
Die Entrata erfuhr hier durch Einbeziehung von Bild und Tanz eine adäquate Darstellung.
Mit dieser meiner letzten Bearbeitung fanden meine ›Lehrjahre bei den alten Meistern‹ ihren Abschluß.«
Nachweise
Textnachweis Kommentar:
Carl Orff: »Entrata«, in: Ders. (Hg.): Carl Orff und sein Werk. Dokumentation, Bd. II: Lehrjahre bei den alten Meistern, Tutzing 1975, S. 193-203.
Bildnachweis:
[Titelseite] Carl Orff: Entrata nach William Byrd für fünfchöriges Orchester und Orgel, Partiturautograph, 1928,BSB, Musikabteilung, Nachlass Carl Orff, Orff.ms.52 | © Carl-Orff-Stiftung/Archiv: Orff-Zentrum München.