Bairisches Welttheater

 

Besetzung: Schauspieler, Solisten, Chor, Orchester, Tonband

Sprache: deutsch, altgriechisch, lateinisch

Entstehungszeit: 1946–1960

Werkteile / Gliederung

Zur Werkgruppe des Bairischen Welttheaters zählen folgende Kompositionen:

Die Bernauerin – Ein bairisches Stück (1946)

Astutuli – Eine bairische Komödie (1946/1953)

Diptychon:

Ludus de nato Infante mirificus – Ein Weihnachtsspiel (1960)
Comoedia de Christi Resurrectione – Ein Osterspiel (1955)

Die Werke des Bairischen Welttheaters sind als thematische Gruppierung ohne hierarchische Ebene zu verstehen. Alle Werke sind einzeln aufführbar. Obgleich sich eine Aufführung im Verbund anbietet, bestehen, mit Ausnahme des Diptychons, bei dem die Sequenz LudusComoedia bindend ist, keine zwingenden Vorgaben, etwa zur gemeinsamen Aufführung, zur Aufführung in zyklischer Form oder in einer bestimmten Reihenfolge.

Informationen zu Handlung und Besetzung finden sich bei den jeweiligen Einzelwerken

Kommentar

Die […] Stücke sind nach Stoff, Gestaltung und Gattung verschieden: Die Bernauerin, obwohl von der Volksballade ausgehend und als »szenische Ballade« deutbar, stellt eine Vorfiguration der Tragödie antikischen Zuschnitts dar; Astutuli können in der Nachfolge des Satyrspiels, Weihnachts- und Osterspiel in der Nachbarschaft des Mysterienspiels gesehen werden.

Trotz dieser Unterschiede stehen sie unter dem gemeinsamen Titel: Bairisches Welttheater. Ist dieser Titel nicht widersprüchlich? Bedeutet nicht die Verlegung weltweiten und weltgültigen Geschehens in einen sprachlich, landschaftlich und mental geprägten Raum eine Verengung und Verkleinerung des Gegenstandes, die dem Rang und Anspruch eines »Welttheaters« nicht mehr entspricht?

Die Antwort ist in der Eigenart des Orffschen Bairisch zu suchen, eines aus dem Sprachbestand des Dialekts eigens geschaffenen szenischen Idioms. Der gebürtige Bayer hat sich den unerschöpflichen Wortschatz der heimischen Mundart, ihre Bedeutungsbrechungen, Farben und Nuancen und die Bildhaftigkeit ihrer Idiomatik durch das Studium von Schmellers Wörterbuch bewußt und verfügbar gemacht. Orff »inszeniert« gleichsam den Dialekt; er spielt und musiziert mit der Sprache und erzeugt in der Einheit mit der Musik eine unverwechselbare, einmalige Atmosphäre, deren »Echtheit« weder durch naturalistische Nachahmung des Dialekts noch mit den Mitteln der Hochsprache zu erreichen ist.

In solcher Gestalt verengt das Bairische nicht; es wirkt eher raum- und zeitenthoben. Es ist fähig, mit dem Lateinischen und dem Griechischen eine selbstverständliche Symbiose einzugehen. In dem ungewöhnlichen Miteinander dieser verschiedengearteten Sprachebenen unter Ausklammerung der deutschen Hochsprache wird ein Theater besonderer Art möglich.

Orffs Zugriff zur Sprache ist »radikal« im Ursinn des Wortes: er geht bis auf die Wurzel, den Bildhintergrund des Wortes zurück. Das Spiel mit diesen Wurzeln wird zum Stil der Gestaltung. Sein Umgang mit dem Sprachbestand ist ein Sublimierungsvorgang, der die gerade im bairischen Dialekt und in der Mentalität des bairischen Stammes naiv und unreflektiert vorgegebenen Eigenschaften gestalterisch aufgreift: die Klangsinnlichkeit und die Bildfülle des Wortes, aber auch seine damit verbundene gestische und mimische Qualität, die der gesprochenen Sprache eigentümlich ist.

Denn Dialekt läßt sich im Grunde nicht schriftlich fixieren; alles ist unmittelbar »erhörtes«, aktives, handelndes Sprechen. »Dem Bajuvaren wurde alles Handlung.« Ihm wohnt ein »unbesiegbarer Drang zur Darstellung« ein, in dem Bild und Klang, pathetische Gebärde und Tanzrhythmen zusammenfließen.« [sic] So hat Hugo von Hofmannsthal (1919) den im bayerisch-österreichischen Raum heimischen »Urtrieb« zum Spiel, die dort lebendige Lust und Liebe zum Theater beschrieben.

Nichts wäre allerdings verkehrter, als Orffs Welttheater in die Linie des bayerisch-österreichischen Volkstheaters zu stellen. Sein Schaffen ruht zwar auf diesem Fundament. Aber es ist auf völlig neue Sinnebenen gehoben. Es hat nichts gemein mit Landschaftsdichtung und Heimatkunst. Denn während das Dialektstück Realitätsnähe erzeugt, als agierten da leibhaftige Menschen des bayerischen Raumes, schafft Orffs bairische Sprache und Diktion eine Realitätsferne, die als dichterische Gegenwirklichkeit neu ersteht. Verschiedenste Haltungen, Bildbereiche und Phantasieräume werden in wechselnder sprachlicher Konfiguration szenisch aufgeschlossen, etwa im Diptychon das Mythisch-Märchenhafte (Erdmutter und Kinder im Schnee), das Legendäre (Erzählung der Hirten, Zug der Magier), das Naturhafte (Frühlingsmonolog des Grabwächters); in der Bernauerin das Lyrisch-Visionäre(»Liebesgarten«), das Untergründig-Drohende (Bürgerszene u. a.), das Apokalyptische (Hetzpredigt des Mönchs); in Astutuli dagegen das Burleske, das Phantastische (Schlaraffenland), das Naiv-Erotische (die jungen Paare); vor allem aber der Einbruch und Ausbruch der außermenschlichen, dämonischen Mächte, der Hexen und des Teufels bis zu dessen komödiantischer Pervertierung – die Beispiele ließen sich beliebig vermehren.

In solch vielfältiger Brechung hat Orff das Bairische zu einer gestisch-mimisch-imaginativen Theatersprache sui generis entfaltet. Er wurde an der bairischen Sprache zum Dichter.

Er wurde daran aber auch zum idealen Interpreten seiner selbst. Seine Lesungen als »Einmanntheater« sind längst zum Begriff geworden, auf Tonträgern verschiedener Art festgehalten und durch die Medien ausgestrahlt worden.

Nicht nur das Theatermachen, auch das Theaterspielen ist in Orffs Natur angelegt. Er übte es im Puppentheater seiner frühen Jugend, aber auch im imaginativen Rezitieren und Improvisieren am Instrument. Es prägt sich später aus in der Eigenart seiner künstlerischen Mitteilung. Ehe ein Wort oder eine Note auf dem Papier steht, ist die Konzeption längst fertige Szene, die er am Klavier oder am Lesetisch vorführt. So sorgfältig und vielseitig durchgeprüft seine Endfassungen sind, seine Art des Schaffens ist der »status nascendi«, ist der Impetus des Spiels als spontane und momentane Aktion. Und nichts ist ihm so suspekt wie eine »Endfassung«. Es reizt ihn immer von neuem, das Ausgeformte unter den praktischen Bedingungen der Szene zu überprüfen und nach ihrem Gesetz zu ändern.

Seine Lesungen sind für ihn die Probe aufs Exempel. Als Requisiten genügen ihm ein Tisch, ein Stuhl, und allenfalls noch ein Bleistift zum Markieren eines Rhythmus oder zum Artikulieren imaginärer Zeitquanten, um ein mimisches, gestisches, pantomimisches und von Sprachklang und Bildfülle berstendes Theater zu entfesseln, dessen Intensität viele seiner Zuhörer und Kritiker über eine Bühnenaufführung stellen. Denn im selbstgesprochenen, rhythmisierten, gleichsam getanzten Wort, aber auch in »sprechenden« Pausen und hintersinnigen Zwischentönen, deren vollkommene Artikulation und Schwingung nur dem Autor verfügbar sind, gelingt es Orff, das Ganze der Szene zu imaginieren. Spieler und Chöre, ja sogar die sprachgestische Mitwirkung der Instrumente erstehen in voller szenischer Magie in der Vorstellung des Zuhörers. Es ist zugleich ein elementarisiertes wie ein »totales« Theater, in dem es nicht um Auffassungen, Deutungen, Regiekünste geht, sondern um die Entfaltung der zeichenhaften Substanz und Essentialität der Szene. Wenn Orff sie vergegenwärtigt, dann wird der Ruf des Gaglers in den Astutuli zur Devise: Alles ist Phantasie!

Nachweise

Textnachweis Kommentar:

Werner Thomas: »Carl Orff als Dichter und Interpret seines ›Bairischen Welttheaters‹«, in: Carl Orff (Hrsg.): Carl Orff und sein Werk. Dokumentation. Bd. VI: Bairisches Welttheater, Tutzing 1980, S. 267–269.

Bildnachweis:

Caspar Neher: Bühnenbild-Entwurf zu Carl Orffs Die Bernauerin, UA, Stuttgart 1947, Carl-Orff-Stiftung/Archiv: Orff-Zentrum München.